Drogen halten Syrien-Krieg am Leben
Krieg löst bei Menschen enormen emotionalen Stress aus. Er wirkt zerstörerisch auf die Psyche. Die Seele erlebt Unmenschliches. Haben viele Soldaten nach Kriegsende schwer mit den Folgen zu kämpfen, müssen sie jedoch während ihren Einsätzen widerstands- und strapazierfähig bleiben. Nicht wenige greifen daher zu Hilfsmitteln. Da jedoch professionelle, psychologische Hilfe meist vor Ort nicht gegeben ist, übernehmen in vielen Fällen Drogen diese Aufgabe.
Besonders drastisch lässt sich das derzeit im Krieg in Syrien beobachten. Seit einiger Zeit ist im Nahen Osten von einer sogenannten „Dschihadistendroge“ die Rede. Es handelt sich hierbei um das Amphetamin-Derivat Fenetyllin, welches stimulierend und leistungssteigernd wirkt.
Fenetyllin wurde Anfang der 1960er Jahre in Deutschland hergestellt und hauptsächlich als medikamentöse Behandlung gegen ADHS eingesetzt. In den 1980er Jahren erlangte der Wirkstoff zweifelhafte Berühmtheit als Dopingmittel für Leistungssportler und wurde daraufhin verboten.
Im Syrien-Konflikt ist es gegenwärtig zur profitabelsten Droge gediehen. Der Handel mit Fenetyllin zählt neben Waffenschmuggel, Geiselnahmen, Schutzgelderpressung und dem Handel mit gestohlenen Antiquitäten zu den größten Devisenbringern für die Kriegstreiber. Die Bedingungen an den syrischen Grenzen erschweren den Drogenverkehr nicht gerade. Zur Türkei im Norden und nach Jordanien im Süden bestehen bereits seit Jahren zahlreiche Schmugglerrouten. Die Grenze zum Irak ist quasi nicht mehr existent. Und der Libanon verfügt ohnehin über ein professionelles Drogennetzwerk. Lediglich die Grenze zu Israel – welche noch immer nicht eindeutig definiert ist – scheint drogenfrei. Jedoch wird Captagon – so der Markenname – längst nicht nur von den „Dschihadisten“ genommen, wie es zeitweise in der arabischen Presse hieß. Wie mittlerweile bekannt ist, sind die kleinen, runden Pillen bei allen Kriegsparteien außerordentlich beliebt. 1) ZEIT Online: Aufgeputscht an die Front; Artikel vom 09.08.17
Dahinter steht ein Netzwerk, das in atemberaubender Weise wirtschaftlich davon profitiert. Die Spuren führen hauptsächlich in den Libanon. Dort ist Drogenproduktion und -konsum nichts außergewöhnlich Neues. Schon die Römer bauten im Bekaa-Tal, dem libanesisch-syrischen Grenzgebiet Marihuana und Opium an. Haschisch wird dort auch heute in großen Mengen produziert, Kokain und Ecstasy sind Teil des Beiruter Nachtlebens. Seit etwas über zehn Jahren wird auch Fenetyllin im Land hergestellt. 2) WELT: Im Tal der Killerdroge; Artikel vom 30.06.17
Ihren Siegeszug begann die Droge während des Libanonkrieges von 2006. Nachdem die israelische Luftwaffe großflächig schiitische Wohngebiete bombardiert hatte, investierte der Iran in den Wiederaufbau dieser. Um schnelles Geld zu machen, so die internationale Tageszeitung Asharq Al-Awsat, lieferte Teheran damals Maschinen zur Herstellung von Captagon an seine libanesischen Verbündeten. Aus dieser Zeit stammt auch ein religiöses Gutachten, welches der Hisbollah die Produktion und den Verkauf von Drogen erlaubte, solange die Kunden keine Schiiten seien. Der Konsum in Nahost stieg rapide an. Auch in Syrien.
Seit etwa vier Jahren – und damit seit Beginn des Bürgerkrieges – registrieren Experten auch eine Verschiebung der Produktion nach Syrien. Diese scheint auch in Kriegszeiten „sehr einfach“ zu sein, so ein „Ex-Dealer“ im Gespräch mit einem Journalisten der ZEIT. Man benötigt eine Maschine zur Herstellung von Bonbons. Diese bekommt man aus China für etwa 1700 Euro. Danach baut man sie ein wenig um. Die Zutaten kauft man legal in Apotheken. Koffein, Hefe, Laktose, manchmal auch Viagra. Die Pillen mit den Namen „Tiger“, „Maserati“ oder „Ronaldo“ belaufen sich in der Herstellung auf wenige Cent pro Stück und werden für etwa 20 Euro an den Mann gebracht. Die Gewinnspanne bedarf keiner großen Rechenleistung. Ein Drogenhändler verrät: „Heute ist Captagon in Syrien fast so verbreitet wie Zigaretten.“ Da die Syrer sich die Schwarzmarktpreise jedoch kaum noch leisten können, ist mittlerweile eine Billigvariante namens „Erdbeere“ für etwa 6 Euro das Stück auf den Markt gekommen. Soldaten werden durch die Droge zum Kampf angefacht. Zivilisten nehmen sie gegen Erschöpfung, Traumatisierung und Depressionen.
Eine weitere Spur führt nach Saudi-Arabien. Das ist nicht nur erstaunlich, da sich die Golfmonarchie und der Libanon derzeit nicht besonders wohl gesonnen sind. Bei Saudi-Arabien wird man zunächst generell stutzig. Das autoritärste aller Königreiche am Golf assoziiert man keineswegs mit illegalen Substanzen. Auf Drogenmissbrauch stehen rigorose Strafen bis hin zur Todesstrafe. Tatsächlich aber besteht der größte Absatzmarkt für die kleinen „Wachmacher“ im wohl konservativsten Land der Erde. Der typische Konsument ist zwischen 20 und 30 Jahre alt und frustriert von der Verbotskultur des Landes.
So entsteht ein Kuriosum: Saudi-Arabien unterstützt zum einen syrische Rebellen im Kampf gegen Machthaber Assad und dessen Verbündete Iran und Hisbollah. Gleichzeitig verkauft die Hisbollah jungen Saudis Drogen zu immensen Preisen und wird dadurch subventioniert. 3) Die Presse: Wie Drogenhandel den Krieg anfacht; Artikel vom 30.05.17
Auch wenn es Berichte von freiwilligen Drogenfahndern unter den Rebellen gibt, so finanzieren sich die Kriegsparteien doch erheblich mit der Droge. Außerdem machen Drogenhändler mit dem Krieg – meist aus sicherer Entfernung – Millionengeschäfte. Auch wenn Captagon einigen Menschen vor Ort die Situation erträglicher erscheinen lässt, so trägt die Droge doch seinen entscheidenden Teil zum Leid und Schrecken vor Ort bei. Es gibt Berichte von außerordentlich brutalen Gewalt- und Mordexzessen unter Einfluss von Captagon. Die Menschen werden durch die Droge emotionsloser und kaltblütiger. Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien, die nun seit Jahren von der Welt beklagt werden und die so viele Millionen Menschen in den Tod oder zur Flucht treiben, werden durch Captagon am Leben Gehalten.
Fußnoten und Quellen:
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